Stefan Trenkel

Das Ausweichen

Eine cavellsche Lektüre von Kafkas Urteil

Abstract: Die bisherige Rezeption hat den Titel von Franz Kafkas Erzählung Das Urteil auf das herausragende Todesurteil des Vaters bezogen. Eine solche Fokussierung verfehlt jedoch Das Urteil. Sie übersieht, dass der Titel die ganze Erzählung strukturiert. Das Urteil ist eine genau kalkulierte Auseinandersetzung mit dem Fällen von und dem Ausweichen vor Urteilen. Georg Bendemann, so kann man überspitzt sagen, wird verurteilt, weil er Urteilen ausweicht. Es zeigt sich, dass die Erzählung so die Voraussetzungen von Intersubjektivität thematisiert. Diese Voraussetzungen kristallisieren sich in dem, was Stanley Cavell die »Anerkennung des Getrenntseins« 1 nennt. 2

1. Schon die Frührezeption behandelte Das Urteil 3 unter zwei Gesichtspunkten: ihrer Rätselhaftigkeit und ihrer Einordnung als Vater-Sohn-Konflikt. So eröffnet Kasimir Edschmid seine Rezension der Buchausgabe von Kafkas Erzählung mit den (schönen) Worten: »Franz Kafka hat ein kleines Buch geschrieben, das ganz im Wunder ist.« 4 Und Georg Küffer bemerkt: »Es ist ein prächtiges Problem, das sich der Dichter zum Vorwurf gewählt hat: kein geringeres als das ewige des stillen, so oft unterdrückten seelischen Kampfes zwischen Vater und Sohn, das die heutige Psychologie so sehr beschäftigt«. Und auch Küffer kommt auf die Rätselhaftigkeit des Urteils zu sprechen, wenn er in Bezug auf den Urteilsvollzug durch den Sohn bemerkt: »Ich muß gestehen, mir scheint, dies geschieht nicht mit unwidersprechlich zwingender Notwendigkeit.« 5

Die weitere Rezeption hat, so möchte ich überspitzt behaupten, diese beiden Tendenzen ausgebaut. Für Gerhard Schindele »aktualisiert« die Verlobung »den ödipalen Konflikt« zwischen Vater und Sohn. Will der Sohn, »der die väterlichen Geschäfte schon routiniert betreibt«, »sich durch die Verlobung doch endgültig an die Stelle des Vaters setzen.« Der Vater schlägt auf diese Herausforderung mit seinem Todesurteil »kraft unbefragbaren archaischen Rechts zurück.« 6 Für Richard T. Gray steht ebenfalls der »Kampf« 7 Georgs mit seinen Vater im Mittelpunkt des Geschehens. Georg will »den Vater physisch verdrängen und dessen Rolle, die des bürgerlichen Patriarchen, übernehmen.« 8 Auch hier ist es die Verlobung, die die Übernahme besiegeln soll. »Im Geschäft hat Georg schon die Oberhand gewonnen, und seine Verlobung bedeutet für ihn den ersten Schritt zum Sieg über den verwitweten Vater im Privatleben.« 9 Grays Analyse unterscheidet sich von der vorigen lediglich dadurch, dass er den Kampf des Sohnes nicht psychoanalytisch (d.h. ödipal), sondern sozioökonomisch interpretiert. Indem der Sohn den Vater »entmachtet und herabsetzt« 10, ahmt er die »verhärteten Umstände des bürgerlichen Lebens« 11 nach. Das Todesurteil des Vaters wird dabei als Verurteilung einer Lebensweise, die die Schattenseiten der verhärteten Umstände (so wie Georg) verdrängt, interpretiert. Diesen Interpretationsstrang fasst Stefan Neuhaus treffend wie folgt zusammen: »In Kafkas Erzählung geht es um einen Konflikt zwischen Vater und Sohn, der prototypisch und anthropologisch, soziologisch wie psychologisch begründbar ist.« 12 Wie auch immer man im Detail die Erzählung interpretiert, es ist nicht möglich, so die Auffassung von Neuhaus, »die Bedeutung des Generationskonflikts zu ignorieren oder zu leugnen.« 13

In jüngerer Zeit haben Interpreten die oben beschriebene Rätselhaftigkeit des Urteils zu einer dekonstruktiven Lesart ausgebaut. Sie kommen wie die ersten Rezensenten zu dem Schluss, dass weder das Todesurteil des Vaters noch die Ausführung dieses Urteils durch den Sohn hinreichend motiviert bzw. verstehbar ist. Diese These stützen sie mit der berühmten kafkaschen Selbstinterpretation: »Das Urteil ist nicht zu erklären.« 14 Die »Nicht-Interpretierbarkeit« 15 des Textes wird dann zu dessen Sinn stilisiert. »[D]ie Bedeutung von Kafkas Erzählungen besteht darin, dem Leser zu zeigen, daß er keine symbolische Bedeutung finden kann, weil die dargestellte Welt nicht nach den Regeln von Wahrscheinlichkeit und Kohärenz funktioniert, und darum nicht auf eine höhere und gültigere Wahrheit hin transparent ist.« 16 »Der letzte Sinn, der diesen Text beschließt und damit erst für eine Interpretation und für eine dekonstruktive Lesart öffnet, ist die Negation von Sinn selbst.« 17

Beide Lesarten, Vater-Sohn-Konflikt und Sinn-Dekonstruktion, werden dem Urteil nicht gerecht. Sie übersehen, dass der Titel der Erzählung, Das Urteil, nicht nur das herausstechende Urteil des Vaters bezeichnet, sondern die ganze Erzählung strukturiert. Das, was im Urteil verhandelt wird, ist das Urteilen selbst und das Ausweichen vor dem Urteilen. Während der Freund, Frieda Brandenfeld, der Vater und vielleicht sogar die Bedienstete Urteile fällen, ist, so möchte ich zeigen, Georg dadurch charakterisiert, dass er Urteilen ausweicht. Dieses Ausweichen ist in zweierlei Hinsicht zu verstehen: zum einen kann Georg keine Urteile fällen, zum anderen kann er von anderen keine Urteile annehmen. 18 Der Vater deckt diese Konstitution Georgs auf. Er verurteilt ihn, weil er Urteilen ausweicht. Dabei macht der Text deutlich, dass dieses Ausweichen Georgs kein Kavaliersdelikt ist. Es hat weitreichende zwischenmenschliche Folgen. Georg ist, wie der Vater kurz vor Verkündigung seines Todesurteils feststellt, ein Solipsist. 19 Er kennt nur sich, andere Menschen kennt er, im vollen Sinn dieses Wortes, nicht. Damit zeichnet sich Georgs Schuld ab: er lässt seinen Freund und seine Verlobte allein. Indem er anderen ausweicht, verrät 20 er sie. So gesehen ist das Urteil eine Auseinandersetzung mit den Grundlagen von Intersubjektivität.

Damit ist das Programm dieser Arbeit umrissen. Im Folgenden möchte ich zeigen, dass das Urteil diesem Programm in einer genau kalkulierten Dramatik folgt. Im ersten Teil der Erzählung, der Beziehung Georg – Petersburger Freund, wird die genannte Charakteristik Georgs, sein Ausweichen vor Urteilen, in allen seinen Facetten eingeführt (2). Der zweite Teil, die Beziehung Georg – Frieda, ist zunächst von einem Lernprozess Georgs gekennzeichnet. Doch genau die letzte Zeile seiner Verlobungsanzeige an den Freund, die gleichzeitig das Ende des zweiten Abschnitts der Erzählung markiert, zeigt, dass Georg nichts gelernt hat. In nur einem Satz macht die Erzählung deutlich, dass Georg in kaum zu überbietender Ignoranz Freund und Verlobte verrät (3). Der dritte Teil der Erzählung, der erste Kontakt Georg – Vater, zeigt die schon bekannte Reaktion Georgs, anderen Urteilen – hier dem Urteil des Vaters, er habe keinen Freund in Petersburg – auszuweichen (5a). Im vierten Teil, der Verurteilung Georgs, deckt der Vater in einer Urteilssalve die Urteilsunfähigkeit seines Sohnes auf. Er verurteilt ihn, weil sein Ausweichen vor Urteilen dazu führt, dass er seine Mitmenschen allein lässt (5b). Der letzte Teil der Erzählung 21, die Ausführung des Todesurteils durch Georg, macht deutlich, dass er nur von einem Extrem ins andere fällt. Während er zu Anfang der Erzählung Urteile anderer mit leichter Hand wegwischt, sind nun solche Urteile für ihn unmittelbar handlungsbestimmend. Georg erkennt nicht, dass man Urteile selbst wieder beurteilen muss. Er weiß nicht, dass man Urteile anerkennen oder nicht anerkennen muss (5c).

Diese Lektüre des Urteils ergänze ich durch zwei Exkurse. Im ersten Exkurs vergleiche ich den Brief Georgs mit dem ersten Brief, den Franz Kafka an Felice Bauer schrieb. Der Vergleich macht deutlich, welcher Abstand zwischen Franz Kafka und Georg Bendemann, trotz aller Nähe, besteht (4). Im zweiten Exkurs verknüpfe ich die bisherige Analyse mit einem Interpretationsvorschlag von Lothar Bluhm. Bluhm legt überzeugend dar, dass man das Urteil auch als Auseinandersetzung Kafkas mit Schreiben in der Nachfolge des Über-Vaters Goethe verstehen kann. Bei seiner Analyse bleibt jedoch im Dunkeln, worin genau die spezifischen schriftstellerischen Qualitäten der drei Autoren Georg Bendemann, Petersburger Freund und Vater Bendemann liegen. Bluhms Urteil beschränkt sich darauf, in Georg einen platten Epigonen und in dem Freund einen eigenständigen Nachfolger des Goethe-Vaters zu sehen. Kafka kommt es jedoch nicht auf den Abstand zum Vater – Schreiben in der väterlichen Wohnung (Fortführung der Tradition) oder im fernen Petersburg (Bruch mit der Tradition) - an. Sein Urteil, so legt unsere Analyse nahe, bestimmt die Qualität von Literatur in ihrer Fähigkeit, Urteile zu fällen (6).

Ich beschließe die Arbeit mit ihrer Verortung in zeitgenössischen Diskussionen zur Intersubjektivität. Dabei zeigt sich zweierlei. Zum einen lässt sich das Urteil als Verurteilung einer intrapsychisch verstandenen Psychoanalyse lesen (7a), zum anderen wird klar, warum Georg Urteilen ausweicht: er hat Angst, allein zu sein (7b).


2. Die Beziehung Georg – Petersburger Freund macht deutlich, dass Georg Urteilen ausweicht. Er kann weder Urteile fällen noch Urteile annehmen. Georg kann seinem Freund nicht sagen, dass er sich »offenbar verrannt« (44) hat, er kann ihm nicht »raten, wieder nach Hause zu kommen« (44), er schreibt ihm nicht von »seinen geschäftlichen Erfolgen« (46) und er teilt ihm (zunächst) nicht seine Verlobung mit Frieda Brandenfeld mit. Es stellt sich die Frage, warum Georg seinem Freund diese, so möchte man sagen, Selbstverständlichkeiten nicht mitteilen kann.

Normalerweise kann man nicht urteilen, wenn man nicht kompetent ist, wenn man nicht das nötige Wissen besitzt. Das ist jedoch bei Georg nicht der Fall. Im Gegenteil: er kann die Lage seines Freundes äußerst präzise (und sensibel) einordnen. Georg weiß, dass sich sein Freund »in der Fremde nutzlos« (43) abarbeitet, dass er krank 22 ist und sich »offenbar verrannt« (44) hat; und er weiß, dass eine Rückkehr in die Heimat äußerst problematisch wäre. Doch dieses ausgesprochen detaillierte Wissen führt zu keinem Urteil. Woran liegt das?

Zunächst benennt Georg den Grund selbst: »Aus Rücksichtnahme, aus keinem anderen Grund sonst.« (51) 23 Georg kann nicht urteilen, weil ein Urteil den Freund verletzen würde. Jeder Rat würde den Freund letztlich noch mehr ›verbittern‹ (44) und damit seine Lage nicht bessern, sondern verschlechtern. Mit diesen genauen Überlegungen zeigt Georg, dass er sich der Verantwortung bewusst ist, die mit dem Fällen von Urteilen verbunden ist. Urteile können verletzen, und diese Verletzungen sollte man, so wie Georg es tut, im Urteilsprozess reflektieren. Doch diese Sensibilität Georgs, so scheint mir, nimmt pathologische Züge an. Seine genaue Kenntnis der Situation des Freundes führt nämlich nicht dazu, dass er ein entsprechend sensibles Urteil fällt, sondern dazu, dass er überhaupt kein Urteil fällt. Man gewinnt den Eindruck, dass Georg zu jedem möglichen Urteil entsprechende Bedenken finden kann, die die Aussichtslosigkeit dieses Urteils vor Augen führen. Das führt zu folgender Vermutung: Georg fällt nicht deswegen kein Urteil, weil ein jedes solches Urteil den Freund verletzen würde, sondern er findet zu jeden Urteil entsprechende Bedenken, weil er kein Urteil fällen möchte. Diese vorläufige (psychoanalytische) Diagnose möchte ich in der weiteren Diskussion erhärten.

Auch die Unfähigkeit Georgs, Urteile anderer anzunehmen, wird an der Beziehung zu seinem Freund deutlich. »Früher […] hatte er [der Freund] Georg zur Auswanderung nach Rußland überreden wollen und sich über die Aussichten verbreitet, die gerade für Georgs Geschäftszweig in Petersburg bestanden.« (46). Ein Urteil ›annehmen‹ heißt natürlich nicht, dem Wortlaut des Urteils folgen. Es heißt, auf ein Urteil (wie auch immer) zu reagieren. Doch Georg, so möchte ich sagen, reagiert nicht auf die Aufforderung des Freundes, er lässt sie links liegen. »Die Ziffern waren verschwindend gegenüber dem Umfang, den Georgs Geschäft jetzt angenommen hatte. Georg hatte keine Lust gehabt, dem Freund von seinen geschäftlichen Erfolgen zu schreiben, und jetzt nachträglich hätte es wirklich einen merkwürdigen Anschein gehabt.« (46) Georg hat »keine Lust«, sich mit dem Urteil des Freundes auseinander zu setzten. Anstatt sich mit seinem Freund zu beratschlagen, dessen Argumente anzuhören und seine Bedenken zu äußern, weiß Georg, dass dessen Urteil falsch ist. 24 Georg weicht dem Urteil des Freundes aus, weil er diesen für inkompetent hält, weil sein Freund »keine Ahnung« (46) hat.

Nebenbei sei bemerkt, dass der Freund die beiden Eigenschaften, Urteile zu fällen und Urteile anzunehmen, besitzt. Dass der Freund Urteile fällt, haben wir eben (sein Ratschlag auszuwandern) gesehen. Dass der Freund auf Georg reagiert, sich mit ›dessen Urteilen‹ auseinandersetzt, zeigt sich daran, dass dieser sich auch für die ›bedeutungslosen‹ ›Merkwürdigkeiten‹ (47), die ihm Georg berichtet, zu interessieren beginnt. 25

Der erste Teil der Erzählung macht nicht nur deutlich, dass Georg Urteilen ausweicht, er zeigt auch, was die Folgen eines solchen Verhaltens sind. Georg kann seinem Freund, »wenn man überhaupt noch die briefliche Verbindung aufrecht erhalten wollte, keine eigentlichen Mitteilungen machen« (45). Er beschränkt sich darauf, »dem Freund immer nur über bedeutungslose Vorfälle zu schreiben« (46f). Dies ist aber nichts anderes, als der Zusammenbruch der zwischenmenschlichen Beziehung Georg - Freund. Oder wie es der Vater später ausdrücken wird: Georg hat »keinen Freund in Petersburg« (53).


3. Während die Beziehung Georg - Freund deutlich zeigt, dass Georg dem Urteilen ausweicht, scheint mit dem Hinzutreten der Verlobten Frieda Brandenfeld unsere These zusammenzubrechen. Frieda kann Georg, der, wie wir gesehen haben, dem Freund »[a]us Rücksichtnahme« (51) weder seine Verlobung anzeigen noch ihn zur Hochzeit einladen wollte, letztendlich umstimmen. Sie »habe doch das Recht, alle [s]eine Freunde kennen zu lernen« (47). Georg fasst sich ein Herz, schiebt seine vormaligen Bedenken beiseite, und zeigt in einem Brief dem Freund die Verlobung an. Überdies lädt er ihn zur Hochzeit ein. Es scheint, als ob Georg durch das Hinzutreten von Frieda die Fähigkeit erwirbt, Urteile zu fällen. Mit dem Brief macht Georg dem Freund doch endlich wieder eine eigentliche Mitteilung, er »ruft«, wie Roland Speirs feststellt, »den Freund dazu auf, nochmals impulsiv zu handeln« 26. Doch ein solches Urteil ist allzu vorschnell. Während es richtig ist, dass Georg mit der Anzeige der Verlobung dem Freund eine eigentliche Mitteilung macht, ist ein genauer Blick auf die Einladung zur Hochzeit nötig. Diese Einladung spricht er mit folgenden Worten aus:

»Ich weiß, es hält Dich vielerlei von einem Besuche bei uns zurück. Wäre aber nicht gerade meine Hochzeit die richtige Gelegenheit, einmal alle Hindernisse über den Haufen zu werfen? Aber wie dies auch sein mag, handle ohne alle Rücksicht und nur nach Deiner Wohlmeinung.« (49)

Man mag in der Frage noch eine halbwegs vernünftige Einladung erkennen. (Mit der für Kafka üblichen, jedes Wort abwägenden, genauen Textanalyse mag man feststellen, dass Georg den Freund nicht zur Hochzeit, sondern nur zu einem Besuch, dessen Gelegenheit in der Hochzeit liegt, einlädt.) Doch mit dem den Brief abschließenden Satz wirft er alle seine guten Ansätze, dem Freund seine Meinung mitzuteilen, wieder über den Haufen. Anstatt dem Freund deutlich zu machen, dass Frieda ihn unbedingt kennen lernen und er ihn sehen möchte, überlässt er ihm das Urteil. 27 Dies ist genau das Muster, das wir oben herausgearbeitet haben. Georg hat nicht den Mut, den Freund mit einem Urteil zu »stören« (47). Georgs Zurückschrecken vor einem Urteil wird sogar noch dadurch verdoppelt, dass er den Freund auffordert, kein Urteil, das er oder Frieda haben könnte, bei seinen Entscheidungen zu berücksichtigen. Nicht nur, dass Georg, wie in Abschnitt 3 gezeigt, den Freund bei seinen Entscheidungen alleine lässt, er fordert ihn sogar auf, so zu handeln, als ob er alleine wäre. Obwohl Friedas Urteile (»ich habe doch das Recht, alle deine Freunde kennenzulernen« (47); »Eigentlich kränkt es mich doch« (48)) bewirken, dass Georg dem Freund wieder eigentliche Mitteilungen macht, lässt er mit dem Schlusssatz des Briefes seinen Freund in einem doppelten Sinn allein. Und indem er Friedas »Recht«, den Freund kennenzulernen, dem Freund nicht mitteilt, schlimmer noch, den Freund dazu auffordert, dieses Recht seiner Verlobten zu ignorieren, missachtet er sowohl Frieda als auch seinen Freund. Georg kann weder zu dem Freund noch zu Frieda eine Beziehung aufbauen. Er weiß nicht einmal, was das ist.


4. Bevor ich mit der Analyse des Urteils fortfahre, möchte ich einen kleinen Exkurs zu dem ersten Brief, den Franz Kafka Felice Bauer schrieb, einschieben. Die Gegenüberstellung dieses Briefes mit dem der Erzählung erlaubt es, nochmals hervorzuheben, wie ein ›normales‹ im Gegensatz zu einem ›pathologischen‹ Briefende aussieht. Ein Vergleich dieser beiden Briefe mag auch deshalb interessant sein, weil zwischen der Erzählung und dem Brief an Felice mehr als nur eine zeitliche Nähe besteht. Felice Bauer und Franz Kafka lernen sich am 13.8.1912 bei Max Brod kennen, am 20.9.1912 schreibt Kafka den besagten Brief an Felice Bauer und am 22./23.9.1912 das Urteil. Im Tagebuch folgt auf die Erwähnung des Briefes »an Frl. Bauer« 28 direkt die Erzählung. Das Urteil (»Eine Geschichte. Für F.« (41); »Deine kleine Geschichte« 29) ist explizit Felice Bauer gewidmet, es ist ›ihre‹ Geschichte. Brief und Erzählung, so kann man vielleicht sagen, sind in einem Atemzug geschrieben. Man kann das Urteil insoweit als Voraussetzung 30 zu diesem ersten Brief verstehen, wie es reflektiert, was es heißt, eine Korrespondenz zu führen.

Der Brief Kafkas an Felice hat, so sollte man vermuten, ein zentrales Ziel: er möchte sie für eine Korrespondenz gewinnen. Und genau auf dieses Ziel steuert, mit den für Kafka typischen Umwegen, der ganze Brief zu. Kafka benutzt eine von Felice bei ihrer ersten Begegnung im Hause Max Brods versprochene gemeinsame Palästina-Reise als Aufhänger, um darauf aufmerksam zu machen, dass eine solche Reise ausführlicher Vorverständigung bedarf. Doch ebenso wie Georg in seinen Reflektionen zur Situation seines Freundes, kommt Kafka auf Bedenken zu sprechen, die gegen ihn als Reisebegleiter sprechen könnten. Entscheidend ist nun, wie Kafka mit diesen Bedenken umgeht. Der letzte Satz des Briefes gibt hierüber Auskunft:

»Aber trotzdem, trotzdem – es ist der einzige Nachteil des Schreibmaschineschreibens, daß man sich so verläuft – wenn es auch dagegen Bedenken geben sollte, praktische Bedenken meine ich, mich auf eine Reise als Reisebegleiter, - führer, - Ballast, -Tyrann, und was sich noch aus mir entwickeln könnte, mitzunehmen, gegen mich als Korrespondenten – und darauf käme es ja vorläufig nur an – dürfte nichts Entscheidendes von vornherein einzuwenden sein und Sie könnten es wohl mit mir versuchen.« 31

In beiden Briefen ist von »Hindernissen« (Georg) und »Bedenken« (Franz) die Rede. Während Georg seinen Freund zwar fragt, ob die Hochzeit nicht Grund wäre, »einmal alle Hindernisse über den Haufen zu werfen«, es aber nicht wagt, diese Hindernisse selbst aus den Weg zu räumen, wischt Franz alle Bedenken weg und stellt fest, dass sie es wohl mit ihm versuchen könnte. Georgs Brief endet mit einem Ausweichen vor einem Urteil, Kafkas Brief schließt mit einem Urteil.


5. Konzentriert man sich bei der Interpretation von dem Urteil auf die Frage, was es bedeutet, (nicht) zu urteilen, so liest sich die Konfrontation Georg – Vater als ein genau kalkuliertes ›Urteils-Drama‹. Dieses Drama gliedert sich in drei Teile. Im ersten Teil weicht Georg dem Vater in bekannter Manier aus (a). Im zweiten Teil deckt der Vater dieses Ausweichen auf; Georgs Fähigkeit, Urteilen auszuweichen, bricht zusammen; der Vater fällt sein Todesurteil (b). Im letzten Teil fällt Georg von einem Extrem ins andere. Während er anfänglich Urteile anderer nicht ernst nahm, führt er nun Urteile, hier das Todesurteil des Vaters, gewissermaßen automatisch aus. Beide Verhaltensweisen sind ein Ausweichen vor dem Urteil (c). Dieses Aufeinandertreffen Georg – Vater zeichne ich nun nach.

(a) Der erste Teil der Konfrontation läuft in den Bahnen ab, die wir bisher herausgearbeitet haben. Im Mittelpunkt steht das Urteil des Vaters, dass Georg keinen Freund in Petersburg hat. Entscheidend ist, wie Georg auf dieses Urteil reagiert. Hier zeigen sich zwei Reaktionsweisen. Zum einen versucht Georg den Vater an seinen Freund zu erinnern. Er erzählt von dem letzten Besuch des Freundes, und dass der Vater sich mit ihm nach anfänglicher Abneigung gut unterhalten hat. Dies ist zunächst eine normale und verständliche Reaktion auf das väterliche Urteil, Georg habe keinen Freund in Petersburg. Die zweite Reaktion auf das väterliche Urteil ist Georgs Sorge um die Gesundheit seines Vaters. Er stellt fest, dass sich sein Vater nicht genug schont und legt ihn schließlich ins Bett. Diese beiden Reaktionen Georgs geschehen gleichzeitig. »Währenddessen« (54) er den Vater ins Bett steckt, versucht er seinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen. Dies kann man dahingehend verstehen, dass beide Reaktionen nicht nur zeitlich, sondern auch inhaltlich zusammen fallen. Das würde aber heißen, dass Georgs Erinnern an den Freund keine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem väterlichen Urteil ist, sondern dass er seinen Vater für senil und inkompetent hält. Das genau ist das Verständnis des Vaters von Georgs Reaktion. Georg antwortet nicht, er deckt seinen Vater lediglich zu. Diese Reaktionsweise Georgs auf (ihn betreffende) Urteile seiner Mitmenschen haben wir oben (Abschnitt 3) in Bezug auf seinen Freund schon kennen gelernt. Auch dort wischt Georg den Rat des Freundes auszuwandern unter Berufung auf dessen Inkompetenz mit leichter Hand weg. Georg weicht dem Urteil des Vaters (»Du hast keinen Freund in Petersburg« (53)) in gewohnter Weise aus.

(b) Der Vater ist jedoch nicht der Freund. Er lässt sich ›nicht zudecken‹. In einer wahren Salve von Urteilen (»Nein!« (56); »Aber schau mich an!« (57); »Aber der Freund ist nun doch nicht verraten!« (57); »Daß du dich nicht irrst!« (58); »Ich fege sie dir von der Seite weg, du weißt nicht wie!« (59); »Er weiß doch alles, dummer Junge, er weiß doch alles!« (59); um nur einige zu nennen) zeigt er Georg, was es heißt, zu urteilen. Stilistisch ist diese Urteils-Salve des Vaters durch eine Anhäufung von Ausrufezeichen gekennzeichnet. Während es in den ersten beiden Teilen der Erzählung (Georgs Zimmer) nicht ein Ausrufezeichen gibt, kommen im dritten und vierten Teil (im Zimmer des Vaters) 33 vor. 26 davon finden sich in der wörtlichen Rede des Vaters, 7 sind Georg zu zuordnen. Die Dichte der Ausrufezeichen erreicht ihren Höhepunkt im Todesurteil des Vaters. Die genau kalkulierte Verwendung der Ausrufezeichen legt nahe, diese wörtlich zu verstehen. Auf stilistischer Ebene wird deutlich gemacht, dass Urteile Ausrufe sind. Urteile sind von jemandem an jemanden gerichtet. Auf symbolischer Ebene wird gezeigt, welche Kraft in Urteilen stecken kann. Urteile sind zuweilen auch Todesurteile.

Folgt man unserer bisherigen Analyse der psychischen Konstitution Georgs, so zeichnet sich seine Schuld, das große Rätsel des Urteils, ab. Georg wird, so können wir zunächst sagen, vom Vater verurteilt, weil er Urteilen ausweicht. Doch jemanden verurteilen, weil er Urteilen ausweicht, ist zu abstrakt. Es stellt sich die Frage, warum man jemanden verurteilen sollte, der Urteilen ausweicht. Auch hierauf gibt das Urteil eine präzise Antwort. Sein Todesurteil leitet der Vater mit folgenden Worten ein: »Jetzt weißt du also, was es außer dir gab, bisher wußtest du nur von dir!« (60) Wir werden noch sehen (5c), warum Georg jetzt weiß, ›was es außer ihm gab‹, hier ist entscheidend, dass der Vater Georg vorwirft, (bisher) nur von sich selbst zu wissen. Der Vater behauptet damit, dass Georg ein Solipsist ist; er kennt nur sich, andere - Mutter, Vater, Freund und Verlobte - kennt er nicht. Er kennt sie nicht, weil er weder Urteile an sie richtet noch Urteile von ihnen annimmt. Er ist »eigentlich« ein »unschuldiges Kind« (60), eben weil er nicht urteilt und somit auch nicht verurteilt. Und er ist »noch eigentlicher […] ein teuflischer Mensch« (60), weil er so andere ›allein‹ (47) lässt und ›verrät‹ (57). Genau dieses alleine lassen, »[a]llein - weißt du, was das ist?« (47), als Folge des Ausweichens vor Urteilen ist das zentrale Vergehen Georgs, für das sein Vater ihn zum Tode verurteilt. Damit zieht Kafka einen elementaren Zusammenhang zwischen dem Fällen von Urteilen und Intersubjektivität. In Anlehnung an Stanley Cavell kann man diesen Zusammenhang vielleicht so ausdrücken: von anderen Personen zu wissen, heißt, Urteile an sie zu richten und sich ihren Urteilen zu stellen. 32

(c) Neben der Frage nach Georgs Schuld haben die Interpreten immer wieder darüber gerätselt, warum Georg das Todesurteil des Vaters so unwidersprochen ausführt. Das ist in der Tat auch mit unserer bisherigen Analyse nicht zu verstehen. Der Georg zu Anfang der Erzählung hätte das Todesurteil nicht ernst genommen und dem Vater tatsächlich einen »Arzt« (53) besorgt. Was also ist passiert? Kann Georg plötzlich Urteile annehmen? Schauen wir uns hierzu an, wie Georg auf die Urteils-Salve des Vaters reagiert. Zunächst versucht er (in Gedanken oder in offener Rede) in gewohnter Manier den Vater »zu verlachen« (59). »Georg machte Grimassen, als glaubte er das nicht.« (59) Doch Georg merkt selbst, dass diese Art zu reagieren nunmehr scheitert. Er erkennt »sofort den Schaden« (58) und seine Worte bekommen »einen toternsten Klang« 33 (59). Die nächste Reaktion Georgs legt sein Versagen offen: er kann der Rede des Vaters nicht folgen. Obwohl er sich vorgenommen hatte, »alles vollkommen genau zu beobachten« (57), ist er dazu nicht in der Lage, er ›vergisst immerfort alles‹ 34. Dies kann man so verstehen, dass Georg durch die schiere Menge, vielleicht auch durch die Präzision der väterlichen Urteile, seiner ›Abwehrkräfte‹ beraubt wird. Georg konnte bisher Urteile anderer abwehren, weil er wusste, dass sie falsch sind. Indem der Vater dieses Vermögen überfordert, liefert er Georg seinen Urteilen schutzlos aus. Georg hat somit genau zwei Möglichkeiten, Urteilen auszuweichen: entweder er hält die anderen für geistig inkompetent oder er selbst wird geistig inkompetent.

Mit den letzten Worten, die Georg an seinen Vater richtet (»Du hast mir also aufgelauert!« (60)), bricht er aus diesem Schema aus. Zum einen erkennt Georg, dass andere Menschen Urteile an ihn richten - und diese Urteile erlebt er, der es bisher gewohnt war, Urteilen auszuweichen, als Bedrohung, als ›Auflauern‹. Zum anderen fällt Georg mit diesem Ausspruch sein erstes Urteil. Mit diesem letzten Satz bricht Georg aus seinem Solipsismus aus. Und genau das benennt der Vater mit den Worten: »Jetzt weißt du also, was es noch außer dir gab, bisher wußtest du nur von dir!« (60)

Georg hat also erfahren, dass Andere Urteile an ihn richten. Doch er ist nicht in der Lage, auf an ihn gerichtete Urteile zu reagieren. Auf Urteile zu reagieren, heißt, die Urteile anderer selbst wieder zu beurteilen. Es heißt, das Urteil anderer zu akzeptieren oder abzulehnen. Nun sieht es so aus, als ob Georg genau das tut, indem er das Urteil des Vaters ausführt. Er reagiert auf das Urteil des Vaters, er erkennt es an. Genau so verstehen viele Interpreten Georgs Selbstmord. Er ist eine Anerkennung des väterlichen Urteils. 35 Ich glaube, die Interpretation des Selbstmordes als Anerkennung des väterlichen Urteils missversteht die Dramatik dieser Szene. Man sollte eher davon sprechen, dass Georg dieses Urteil blind ausführt. Er handelt nicht als autonome Person, die das Urteil aus welchen Gründen auch immer akzeptiert 36 und dann ausführt, sondern er handelt gewissermaßen in Trance. Er wird getrieben, »gejagt« (60). Eine solche Deutung legt Georgs Zustand kurz vor der Urteilsverkündung nahe. Zum einen ist Georg, wie wir gesehen haben, nicht mehr in der Lage, dem Vater zu folgen. Er vergisst alles, kann sich nicht konzentrieren. Er kann also das väterliche Urteil selbst nicht mehr beurteilen und somit auch nicht anerkennen. Zum anderen versteht Georg die Urteile des Vaters als ›auflauern‹. Das heißt, Georg erfährt Urteile als unmittelbaren (und nicht als mittelbaren) Zwang. Er versteht Urteile als etwas, das man direkt ausführen muss. Georg wechselt also im Laufe der Erzählung von einem Extrem ins andere. Während er am Anfang Urteilen anderer ausweicht, indem er sie als nicht kompetent abqualifiziert, steht er am Ende der Erzählung im Bann von fremden Urteilen.

Diese beiden Reaktionsweisen auf Urteile stellen zwei Extreme dar, wie man Urteile anderer, und damit die Anderen, verfehlen kann. Das eine Mal werden Urteile nicht wahrgenommen, das andere Mal werden Urteile unmittelbar ausgeführt. In beiden Fällen werden Urteile nicht als Aufforderung verstanden, sich mit anderen und sich selbst auseinander zu setzen.


6. Damit ist unsere Analyse des Urteils im engeren Sinn abgeschlossen. Als ›Anwendung‹ möchte ich eine von Lothar Bluhm vorgelegte poetologische Lesart der Erzählung ergänzen. Bluhm hat Das Urteil »im Diskursfeld der zeitgenössischen Goethe-Nachfolge« (176) situiert. 37 Im »späteren 19. und frühen 20. Jahrhundert« manifestiert sich »in verschiedenster Form in vielen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens« (177) ein Goethe-Kult. Für unsere Zwecke ist der Goethe-Kult in der Literatur von Interesse. Bluhm arbeitet hier zwei gegenläufige Entwicklungsstränge heraus. »[D]er dominierende Strang« war »auf eine ›Nachfolge‹ Goethes ausgerichtet«. (177) Er will, was er »bewundert, in der Nachahmung erreichen und übertreffen« (177). Der sezessionistische Strang sucht »die kritische Auseinandersetzung mit dem erdrückenden ›Über-Vater‹ und die augenfällige Entgegensetzung zu ihm.« (178) Diese beiden Stränge markieren einen frontenreichen Erbfolge-Krieg, »der mit Blick auf Goethe als ein Streit um die eigene Identität im Verhältnis zum überragenden Vorbild und um die adäquate Fortschreibung der klassisch-romantischen Tradition bezeichnet werden kann.« (178)

Dass Kafka sich in diesem so umrissenen diskursiven Feld bewegte, zeigen sowohl eine Reihe von Tagebucheintragungen Ende 1911 / Anfang 1912 als auch sein Besuch Ende Juni / Anfang Juli 1912 in Weimar. Dabei ist Kafka (in erster Näherung) dem sezessionistischen Strang der Goethe-Nachfolge zuzuordnen. Er ist fasziniert von Goethe, doch diese Faszination ist zugleich Quelle 38 als auch Bedrohung 39 für sein eigenes Schreiben. Dass dies nicht nur seine private Faszination ist, sondern dass sich die damalige deutsche Literatur im ›Diskursfeld‹ ›Goethe-Nachfolge‹, so wie es Bluhm herausgearbeitet hat, bewegte, ist Kafka bewusst. Dabei verurteilt er den oben genannten dominierenden Strang der Goethe-Nachfolge:

»Goethe hält durch die Macht seiner Werke die Entwicklung der deutschen Sprache wahrscheinlich zurück. Wenn sich auch die Prosa in der Zwischenzeit öfters von ihm entfernt, so ist sie doch schließlich, wie gerade gegenwärtig mit verstärkter Sehnsucht zu ihm zurückgekehrt und hat sich selbst alte bei Goethe vorfindliche sonst aber mit ihm nicht zusammenhängende Wendungen angeeignet, um sich an dem vervollständigten Anblick ihrer grenzenlosen Abhängigkeit zu erfreuen.« 40

Bluhm liest Das Urteil als eine solche Verurteilung des dominierenden Strangs der Goethe-Nachfolge. Georg Bendemann hat »erfolgreich und publikumsorientiert« (192) das Erbe des Goethe-Vaters angetreten. Doch die Verurteilung Georgs durch den Vater entlarvt ein solches Inbesitznehmen als ›Zudeckung‹. Georg eskamotiert »alles Disparate aus dem Nachlass« und entwertet so eine »in sich spannungsreiche Kunst« (192). Anders der Freund in Petersburg. Er zeigt sich zunächst »als sezessionistisch und – am Publikumsinteresse gemessen – erfolglos«, doch seine geheime »Korrespondenz mit der Tradition« (192) weist ihn als wahrhaften Erben aus. »Wirkliche Nachfolge«, so Bluhms Resümee, »beglaubigt der Vater den (künstlerischen) Weg des Freundes, heißt Eigenständigkeit, nicht das harmonische Gedenken eines in seiner Eigenheit unübersteigbaren Vorbilds.« (192)

Mit dieser poetologischen Lesart hat Bluhm das Interpretationsspektrum des Urteils bereichert. Überzeugend hat er dargelegt, dass Kafka mit dem Urteil auch literarisches Schreiben in der Nachfolge Goethes thematisiert. Dabei verkörpern der Freund und Georg die beiden Pole ›Eigenständigkeit‹ und ›harmonisches Gedenken‹ (oder wie Kafka es oben formuliert hat: ›grenzenlose Abhängigkeit‹). Unscharf bleibt Bluhms Analyse jedoch in der Frage, worin genau die ›Eigenständigkeit‹ des Freundes und die ›grenzenlose Abhängigkeit‹ Georgs bestehen. Bluhm beantwortet diese Frage im wesentlichen mit Blick auf den Lebensweg der beiden Protagonisten. Während Georgs »handwerkliche[s] Künstlertum« »nach dem Erfolg schielt und künstlerische Inspiration durch Arbeit und Fleiß ersetzt« (188), ist der Freund »durch Eigenschaften, die seit der Romantik zum Beschreibungskatalog modernen Künstlertums gehören: Fremdheit, Heimatlosigkeit, Erfolglosigkeit im bürgerlichen Leben, Isolation« (191), charakterisiert. Doch eine solche Stellungnahme Kafkas im ›goetheschen Erbfolge-Krieg‹ wäre jedoch allzu platt. Gute (und schlechte) Schriftsteller sollten sich sowohl im Lager der ›Handwerker‹ als auch im Lager der ›Heimatlosen‹ finden. ›Abhängigkeit‹ oder ›Unabhängigkeit‹ bemisst sich nicht daran, ob man eine bürgerliche oder romantisch-künstlerische Existenz führt.

Mit unserer bisherigen Analyse lässt sich ein genaueres Bild zeichnen. Alle drei Protagonisten, Georg, der Freund und der Vater werden als (Briefe-) Schreiber, Leser und im Falle des Freundes als Erzähler präsentiert. Ihre Qualitäten als Autoren lassen sich dabei recht präzise rekonstruieren. Als Georgs literarische Arbeit sollte man seinen Brief, aber auch seine anfängliche Reflektion zur Situation seines Freundes ansehen. Gerade diesen Reflektionen kann man eine literarische Qualität nicht absprechen. Es sind äußerst penible und sensible überlegungen zur Situation des Freundes in Petersburg und der Möglichkeit eines produktiven Eingreifens von Seiten Georgs. Entscheidend ist jedoch, dass Georg die an sich fruchtbaren Überlegungen nicht zu einem produktiven Abschluss bringen kann. Das Ergebnis seiner Überlegungen sind letztlich »keine eigentlichen Mitteilungen« (45). So gesehen ist Georg ein literarisches Genie, das in den Kinderschuhen stecken bleibt.

Neben den Andeutungen zu den Qualitäten als Briefschreiber in den Reflektionen Georgs zu Anfang der Erzählung ist das entscheidende literarische Produkt des Freundes seine (unglaubliche) Geschichte des Geistlichen, der die revoltierende Menge im revolutionären Kiew mit einem in die Hand geschnittenen Blutkreuz anruft. Diese Geschichte zeichnet sich nicht durch penible Überlegungen aus, sondern durch die Verschmelzung zwei der vielleicht stärksten Symbole des christlichen Abendlandes: Blut und Kreuz zum Blutkreuz. Was auch immer das Blutkreuz genau bezeichnet, indem der Geistliche es der Menge entgegenhält, spricht er ein kaum zu steigerndes Urteil aus. Auch diese Geschichte könnte den Titel »Das Urteil« tragen, sie symbolisiert nichts anderes als eben diesen Titel. Obwohl der Vater den Freund »nicht besonders gern« (54) hat - man mag darin eine Missbilligung seines literarischen Stils sehen -, schätzt er gerade diese Geschichte. Er erzählt sie »hie und da« (54) wieder. Mit dieser Geschichte kann sich der Freund als origineller Autor etablieren.

Der Dialog des Vaters mit seinem Sohn kann man als dessen ›literarisches Spätwerk‹ auffassen. Es ist, wie wir gesehen haben, nichts anderes als eine Aneinanderreihung von Urteilen.

Mit dieser Analyse sind die schriftstellerischen Qualitäten der drei Autoren umrissen. Georg, so kann man sagen, hat das genaueste Urteilsvermögen, doch bleibt dieses Vermögen als Vermögen stecken. Seine Genauigkeit wird zur Übergenauigkeit, die jedes Urteil verunmöglicht. Der Freund ist kein Meister des großen Werkes, doch kann er mit genauen, starken und originellen Kurzgeschichten brillieren. Der Vater ist der große Über-Vater. Sein Werk ist nichts anderes als ein ununterbrochenes Urteilsstakkato. So gesehen steht nicht eine Existenzweise, ›bürgerlicher Handwerker‹ versus ›romantischer Künstler‹, im Mittelpunkt der Erzählung, sondern eine spezifische literarische Qualität. ›Grenzenlose Abhängigkeit‹ (Kafka) bemisst sich daran, ob ein literarischer Text Urteile fällt oder nicht. Das Urteil verurteilt literarische Texte, die kein Urteil fällen. 41 Gute Literatur, so legt das Urteilnahe, macht ›eigentliche Mitteilungen‹, sie hat was zu sagen.


7. Zum Abschluss möchte ich die vorgelegte Analyse des Urteils im Kontext zeitgenössischer Theorie zur Intersubjektivität verorten. Dabei beschränke ich mich auf zwei grobe Andeutungen.

(a) Man hat, wie ich in der Einleitung (Abschnitt 1) skizziert habe, das Urteil häufig als ödipalen Vater-Sohn-Konflikt gelesen. Das hatte zur Folge, »das erzählte Geschehen als innerseelischenKonflikt« 42 zu deuten. Diese innerseelische (oder intrapsychische) Deutung ist kein Zufall. Hat doch Freud im Wesentlichen die intrapsychische Ich-Konstitution analysiert. Von heute aus gesehen wird klar, dass diese Freudsche Sicht zu einseitig ist. Die intrapsychische Analyse muss, so hat sich vor allem im Zuge der Objektbeziehungstheorie gezeigt, durch eine intersubjektive ergänzt werden. 43 Vor diesem Hintergrund wird klar, warum ich glaube, dass eine (intrapsychische) ödipale Lesart das Urteil verfehlt. Wenn Kafka in sein Tagebuch in Bezug auf das Urteil »Gedanken an Freud natürlich« 44 notiert, so ist seine Erzählung nicht als Fortschreibung, Ergänzung, Veranschaulichung oder Vorläufer 45 der Freudschen (innerseelischen) Psychoanalyse zu verstehen, sondern in kritischer Auseinandersetzung mit ihr. Das Urteil, so macht unsere Analyse deutlich, ist im Wesentlichen eine Auseinandersetzung mit Intersubjektivität. Eine psychoanalytische Interpretation des Urteils sollte also nicht mit Freud die intrapsychische, sondern mit Blick auf die Objektbeziehungstheorie die intersubjektive Dimension der Erzählung herausarbeiten. Es deutet sich an, dass man das Todesurteil des Vaters auch als eine Verurteilung einer psychoanalytischen Sichtweise lesen kann, die sich ausschließlich auf das Intrapsychische konzentriert. Dies unterstreicht insbesondere der »Arzt« (»Gedanken an [Dr.] Freud natürlich«), den Georg seinem Vater im Prozeß des oben herausgearbeiteten Zudeckens, sprich Ausweichens vor dem Urteil, holen möchte.

(b) Unsere bisherige Analyse hat gezeigt, dass Georg Urteilen ausweicht. Und zumindest andeutungsweise haben wir gesehen, welche Folgen ein solches Ausweichen hat. Es bedeutet, andere allein zu lassen, andere nicht zu kennen. Urteilen auszuweichen ist eine Leugnung des Anderen. Es stellt sich die Frage, warum Georg Urteilen ausweicht. Ich möchte mich im Folgenden bei der Frage nach der Ursache von Georgs Ausweichen von Analysen leiten lassen, die Stanley Cavell vorgelegt hat.

Stanley Cavell ist ein ungewöhnlicher Philosoph. Er hat u.a. ein Buch zu Wittgenstein (»The Claim of Reason«), ein Buch zu Shakespeare (»Disowning Knowledge«), ein Buch zu Thoreau (»The Sense of Walden«) und ein Buch zu Hollywood-Komödien (»Pursuits of Happiness«) geschrieben. Man sollte aber nicht meinen, Cavell wendet sich eklektizistisch verschieden Themen zu. Im Mittelpunkt all dieser Arbeiten steht das ›Problem des Anderen‹. Es geht um die Frage, was es heiẞt, sich Anderen zuzuwenden, eine Welt mit ihnen zu teilen, und um die Frage der Bedrohung unseres Zusammenlebens. Die Bedrohung unseres Zusammenlebens nennt Cavell Skeptizismus. Der (moderne) Skeptizismus in Bezug auf ›Other Minds‹ ist für Cavell kein epistemologisches Problem, kein intellektueller Mangel, sondern eine Leugnung des Anderen. 46 Konstatiert der Skeptiker, dass wir niemals sicher wissen können, ob ein anderer Schmerzen hat (der andere könnte Schmerzen vortäuschen), dann offenbart der Skeptiker nicht eine nicht zu ertragende Lücke in unserem Wissen, sondern er beteiligt sich an unserer Leugnung des anderen. Für Cavells Verständnis ist entscheidend, dass der Skeptizismus ›ebensoviele Verkleidungen trägt wie der Teufel‹ 47. Ein Antrieb von Cavells Denken besteht darin, möglichst genau möglichst viele solcher Verkleidungen offenzulegen. Ich möchte zeigen, dass Kafkas Urteil eine weitere solche Verkleidung thematisiert. Dabei wird sich zum einen unser Verständnis des Zusammenhangs von ›Urteilen ausweichen‹ und ›Leugnung des Anderen‹ vertiefen, zum anderen wird sich eine Antwort auf die Frage nach der Ursache von Georgs Ausweichen abzeichnen.

Stanley Cavell hat in seinen Arbeiten zur Intersubjektivität die eigenständige Dimension von Anerkennung gegenüber Wissen herausgearbeitet. 48 Er hat deutlich gemacht, dass man Anerkennung nicht auf Wissen reduzieren kann. Weiß ich, dass jemand Schmerzen hat, so kann ich mich ›normalerweise‹ nicht mehr neutral verhalten. Entweder erkenne ich die Schmerzen an (helfe, tröste) oder ich erkenne sie nicht an (zeige Schadenfreude, schaue weg, tue gar nichts). Das würde heißen, dass Wissen notwendig (die Kategorie der) Anerkennung nach sich zieht. Cavell hat gezeigt, dass dem nicht so ist. Ein »Scheitern der Anerkennung« ist möglich. Ein solches »Scheitern der Anerkennung« diagnostiziert Cavell im Skeptizismus. Indem der Skeptiker fragt, ob das Schmerzverhalten, das er sieht, tatsächlich Schmerz ist (es könnte vorgetäuscht sein), stellt er nicht Wissen in Frage, sondern, so die zentrale Schlussfolgerung (Diagnose) Cavells, Anerkennung. Der Skeptiker scheitert nicht daran zu wissen, dass jemand Schmerzen hat, sondern er scheitert an der Anerkennung der Schmerzen.

Ich glaube nun, dass man auch in Georg eine Art Skeptiker sehen kann. Georg weiß, dass sein Freund in Petersburg leidet. Ähnlich einem Skeptiker stellt er aber das Leiden seines Freundes (bzw. seine Möglichkeit des Eingreifens) in Frage. Georg scheitert, das Leiden seines Freundes anzuerkennen. Georgs Ausweichen vor Urteilen ist ein Scheitern der Anerkennung.

Es sieht nun so aus, als ob Georg nur hätte Urteile fällen müssen. Er hätte auf das Leiden seines Freundes reagieren müssen (was auch immer das heißen mag: ihm lebenspraktischen Rat geben; ihm zur Rückkehr raten; seine eigene Ratlosigkeit offenbaren). Dann hätte er das Leiden seines Freunds anerkannt. Das ist im Prinzip auch richtig. Cavell macht jedoch auf die Voraussetzungen eines solchen ›reagieren-könnnens‹ aufmerksam. Man kann auf den anderen nur dann reagieren, wenn man dessen ›Getrenntheit‹ anerkennt. Man muss anerkennen, dass man trotz aller (möglichen) Gemeinsamkeiten (man hat die gleichen Gefühle, Gedanken, Interessen usw.) nicht der andere ist; er ist dort, ich bin hier. Oben habe ich gesagt, dass die Folge von Georgs Ausweichen vor Urteilen, - jetzt können wir sagen: von Georgs Unvermögen, das Leiden seines Freunds anzuerkennen – das ›Allein-lassen‹ des Freundes ist. Hier wird nun deutlich, was der Grund für Georgs Ausweichen ist. Georgs (beängstigende) Frage: »Allein – weißt du, was das ist?« ist nicht nur, wie ich es bisher gelesen habe, eine Parodie auf Georgs Verhalten, andere allein zu lassen, sondern sie drückt seine zentrale Angst aus: Georg fürchtet nichts mehr, als alleine zu sein. Und um nicht alleine zu sein, wagt er es nicht, auch nur die geringste Differenz zwischen sich und seinen Mitmenschen aufkommen zu lassen. So weicht er jedem Urteil, das notwendig die Differenz bzw. Getrenntheit sichtbar macht, aus. Er erkennt seine ›Getrenntheit‹ nicht an. Sein Ausweichen, Urteile zu fällen, ist ein Scheitern der Anerkennung des Getrenntsein. Georg erkennt das Leiden seines Freundes nicht an, weil er ihr Getrennt-Sein nicht anerkennt. Und diese doppelte Nicht-Anerkennung hat genau das zur Folge, wovor sich Georg am fürchtet: Allein-Sein. Georg kann nicht urteilen, weil er nicht weiß, was das ist, - allein.

Interpretiert man so Georgs Verhalten, so wirft das möglicherweise auch ein Licht auf Kafkas Ausspruch: »Das Urteil ist nicht zu erklären.« Postmoderne Interpreten haben, wie in der Einleitung angedeutet, diesen Ausspruch als Gewähr dafür benutzt, das Urteil als »Negation von Sinn« 49 zu lesen. Was auch immer das heißen mag, Cavell erlaubt hier eine präzisere Sicht. Mit Cavell kann man zwischen den Kriterien für ein Urteil (Wissen) und dem Fällen (Anerkennung) eines Urteils unterscheiden. Die Kriterien für ein Urteil kann man sehr wohl angeben oder - wie hier - versuchen zu rekonstruieren. Ich habe versucht zu zeigen, dass der Solipsismus Georgs ein Kriterium für das Todesurteil des Vaters ist. Das Todesurteil könnte als der (gescheiterte) Versuch des Vaters angesehen werden, Georg mit einem solchen brachialen Urteil wachzurütteln. Was man nicht erklären kann, ist, dass jemand dann tatsächlich ein Urteil fällt. Das Fällen eines Urteils ist keine Sache des Erklärens (der Kriterien), sondern der Anerkennung. Möglicherweise hatte Kafka diese Unterscheidung vor Augen, als er sein apodiktisches Urteil fällte. 50


0 Stanley Cavell, What is the scandal of skepticism?, S. 151; in: ders., PHILOSOPHY THE DAY AFTER TOMORROW, Cambridge 2005.

1 Z.B. Stanley Cavell, Wittgenstein als Philosoph der Kultur. Alltäglichkeit als Heimat, S. 106; in: ders., Nach der Philosophie. Essays. Zweite, erweiterte und überarbeitete Auflage, Berlin 2001, S. 97-126.

2 Sowohl der Titel als auch der gesamte Text verdanken sich Stanley Cavell und seinem Essay »The Avoidance of Love – A Reading of King Lear« (in: ders., Disowning Knowledge. In Seven Plays of Shakespeare, Updated Edition, Cambridge 2003, S. 39-123).

3 Franz Kafka, Das Urteil. Eine Geschichte. Für F. Ich zitiere nach: Franz Kafka, Drucke zu Lebzeiten, herausgegeben von Wolf Kittler, Hans-Gerd Koch und Gerhard Neumann, New York 1994. Im Internet findet sich eine Kopie der Erstveröffentlichung (Arkardia, 1913) im Deutschen Textarchiv. Eine gut durchgesehene und auf vielen Geräten (PC, Tablet, Smartphone) lesbare Veröffentlichung findet sich bei WIKISOURCE.

4 Kasimir Edschmid, Deutsche Erzählungsliteratur, in: Frankfurter Zeitung, 21.12.1916; zitiert nach: Jürgen Born (Hg.), Franz Kafka. Kritik und Rezeption zu seinen Lebzeiten 1912-1924, Frankfurt/M. 1979, S.84.

5 Georg Küffer, ›Das Urteil.‹ Eine Geschichte von Franz Kafka, in: Der Bund, Bern, Sonntagsblatt, 4.3.1917; zitiert nach: Jürgen Born (Hg.), a.a.O., S. 86f.

6 Gerhard Schindele, Das Urteil, in: Walter Jens (Hg.), Kindlers Neues Literatur Lexikon, Band 9, München 1990, S. 53. Weitere Vertreter der psychoanalytischen Lesart sind u.a. Walter H. Sokel und Martin Bartels. (Walter H. Sokel, Perspectives and Truth in ›The Judgment‹, in: Angel Flores (Hg.), The Problem of ›The Judgment‹: Eleven Approaches to Kafka's Story, New York 1977, 193-237; wiederabgedruckt in: W. H. Sokel, The Myth of Power and the Self. Essays on Franz Kafka, Detroit 2002, S. 181 – 215; Martin Bartels, Der Kampf um den Freund. Die psychoanalytische Sinneinheit in Kafkas Erzählung ›Das Urteil‹, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 56, 1982, S. 223-258)

7 Richard T. Gray, Das Urteil, in: Michael Müller (Hg.), Interpretationen. Franz Kafka. Romane und Erzählungen, Ditzingen 2003, S. 32.

8 Ebd., S. 32.

9 Ebd., S. 32.

10 Ebd., S. 29.

11 Ebd., S. 39.

12 Stefan Neuhaus, Rezeptionsästhetik: Im Namen des Lesers. Kafkas ›Das Urteil‹ aus rezeptionsästhetischer Sicht, S. 94; in: Oliver Jahrhaus, Stefan Neuhaus (Hg.), Kafkas ›Urteil‹ und die Literaturtheorie. Zehn Modellanalysen, Stuttgart 2002, S. 78 – 100.

13 Ebd., S. 98.

14 Franz Kafka, Briefe an Felice und andere Korrespondenz aus der Verlobungszeit, herausgegeben von Erich Heller und Jürgen Born, Frankfurt/M., S. 396. Kurz vorher fragte Franz Kafka Felice Bauer: »Findest Du im Urteil irgendeinen Sinn, ich meine irgendeinen zusammenhängenden, verfolgbaren Sinn? Ich finde ihn nicht und kann auch nichts darin erklären.« (ebd., S. 394)

15 Oliver Jahrhaus, Dekonstruktion: Zeichen-Verschiebungen: vom Brief zum Urteil, von Georg zum Freund. Kafkas ›Das Urteil‹ aus poststrukturalistischer/dekonstruktivistischer Sicht, S. 242; in: Jahrhaus, Neuhaus (Hg.), a.a.O., S. 241 – 262.

16 Rosmarie Zeller, Kafkas ›Urteil‹ im Widerstreit der Interpretationen, S. 182; in: Albrecht Schöne (Hg.), Kontroversen, alte und neue. Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses, Göttingen 1985, Band 11, Tübingen 1986, S. 174 – 182.

17 Jahrhaus, a.a.O., S. 245. Dieser Interpretationsrichtung sind auch Rolf Selbmann (Hermeneutik: Kafka als Hermeneutiker. ›Das Urteil‹ im Zirkel der Interpretationen; in: Jahrhaus, Neuhaus (Hg.), a.a.O., S. 36 – 58), Michael Scheffel (Strukturalismus: ›Das Urteil‹ – Eine Erzählung ohne ›geraden, zusammenhängenden, verfolgbaren Sinn‹?; in: Jahrhaus, Neuhaus (Hg.), a.a.O., S. 59 – 77) und Nina Ort (Systemtheorie: Zum Gelingen und Scheitern von Kommuniktion. Kafkas ›Urteil‹ – aus systemtheoretischer Perspektive; in: Jahrhaus, Neuhaus (Hg.), a.a.O., S. 197 – 219) zuzurechnen.

18 Ein ›Urteil fällen‹ bezeichnet hier und im Folgenden eine Reihe von Praktiken wie ›jemandem seine Meinung sagen‹, ›jemandem einen Rat geben‹, ›jemanden auffordern, etwas zu tun‹ oder ›jemanden verurteilen‹. Nicht gemeint sind Fälle, in denen man gewissermaßen nur für sich selbst ein Urteil fällt. Entscheidend am ›Urteil fällen‹ ist, dass man jemand anderem etwas sagt.

19 »Jetzt weißt du also, was es außer dir gab, bisher wußtest du nur von dir!« (60) Der Solipsismus Georgs wird an zwei weiteren Textstellen angedeutet. Frieda Brandenfeld, Georgs Verlobte, macht mit ihrer Schlussfolgerung »Wenn du solche Freunde hast, Georg, hättest du dich überhaupt nicht verloben sollen« deutlich, dass Georg, wenn er seine Petersburger Beziehung als Freundschaft versteht, nicht beziehungsfähig ist. Und der Vater eröffnet seine Anklagerede mit den Worten: »Du hast keinen Freund in Petersburg.« Damit stellt der Vater (wie schon festgestellt) nicht die physische Identität des Freundes, sondern die Freundschaft selbst in Frage.

20 »[D]en Freund verraten« (57) zu haben ist einer der Anklagepunkte des Vaters.

21 Damit gliedert sich die Erzählung wie folgt: Teil 1, S. 43-46; Teil 2, S. 46-49; Teil 3, S. 49-55; Teil 4, S. 56-60; Teil 5, S. 60-61.

22 Auf eine Krankheit deutet die »gelbe Hautfarbe« (43) des Freundes hin. Auch der Vater bestätigt den Zusammenhang von Hautfarbe und Krankheit (»der Freund geht zugrunde in seinem Rußland, schon vor Jahren war er gelb zum Wegwerfen« (60)). Damit macht der Vater auch klar, wie alarmierend schlecht es um den Freund in Rußland steht.

23 Dieses Motiv der Rücksichtnahme wird von Georg vielfach wiederholt: »Das bedeutet aber nichts anderes, als daß man ihm [dem Freund] gleichzeitig, je schonender desto kränkender, sagte« (44); »alle Plage, die man ihm antun müßte« (44); »verbittert durch die Ratschläge« (44); »Ich will ihn nicht stören« (47).

24 Anders der Vater. Er kann dem Freund zuhören. (»Ich war damals so stolz darauf, daß du ihm [dem Freund] zuhörtest, nicktest und fragtest.« (54))

25 »So geschah es Georg, daß er dem Freund die Verlobung eines gleichgültigen Menschen mit einem ebenso gleichgültigen Mädchen dreimal in ziemlich weit auseinanderliegenden Briefen anzeigte, bis sich dann allerdings der Freund, ganz gegen Georgs Absicht, für diese Merkwürdigkeit zu interessieren begann.« (47)

26 Roland Speirs, ›Das Urteil‹ oder die Macht der Schwäche, S. 100; in: Heinz Ludwig Arnold (Hg.), TEXT + KRITIK: Franz Kafka, München 1994, S. 93 - 108.

27 Der Vater, so kann man mutmaßen, hätte seinen Freund mit folgenden Worten eingeladen: »Meine Verlobte und ich erwarten Dich zu unserer Hochzeit. Werfe alle Hindernisse über den Haufen und komme!«

28 Franz Kafka, Tagebücher, herausgegeben von Hans-Gerd Koch, Michael Müller, Malcolm Pasley, Frankfurt/M. 1990, S. 442.

29 Franz Kafka, Briefe an Felice und andere Korrespondenz aus der Verlobungszeit, a.a.O., S. 144. Ebenso S. 156, S. 162, S. 298, S. 374 und S. 704 (»Deine alte Geschichte«).

30 Rückblickend ist Kafka sogar der Meinung, dass er das Urteil vor dem ersten Brief an Felice geschrieben hat: »Es [das Urteil] ist zu einer Zeit geschrieben wo ich Dich zwar schon kannte und die Welt durch Dein Dasein an Wert gewachsen war, wo ich Dir aber noch nicht geschrieben hatte.« (Brief vom 2.6.1913, ebd., S. 394)

31 Ebd., S. 44.

32 Vgl.: »To know you are in pain is to acknowledge it, or to withhold the acknowledgement.« (Stanley Cavell, Knowing and Acknowledging, S.266, in: ders.,Must We Mean What We Say? A Book of Essays, Cambridge 2002, S. 238-266; deutsch: Wissen und Anerkennen, in: ders., Die Unheimlichkeit des Gewöhnlichen und andere philosophische Essays, Frankfurt/M. 2002, S. 39-73)

33 Vielleicht legt diese Falschschreibung, »toternst« anstatt »todernst«, nahe, dass es sich im Wesentlichen um einen toten Klang handelt.

34 »Nur einen Augenblick dachte er das, immerfort vergaß er alles.« (59)

35 Noch bevor er mit seiner Interpretation beginnt, fragt Roland Speirs: »Warum akzeptiert Georg Bendemann das Urteil des Vaters?« (a.a.O., S. 93). Dass Georg an dieser Stelle – juristisch gesprochen – nicht zurechnungsfähig sein könnte und man so auch nicht von einem ›Akzeptieren‹, ›Annehmen‹ oder ›Anerkennen‹ sprechen kann, wird durch ein solches Vorurteil ausgeblendet. Vgl. ebenso: Rolf Selbmann (»Indem Georg das Urteil annimmt, sofort und widerspruchsfrei zum Vollzug schreitet, gibt er ihm erst seinen Sinn.« (a.a.O., S. 54f)), Michael Scheffel (»Weshalb nimmt Georg sein Urteil ohne Widerspruch an?« (a.a.O., S. 73)), Stefan Neuhaus (»Es stellt sich die Frage, weshalb der Sohn dieses harte Urteil wirklich verdienen könnte, denn schließlich nimmt er es an und führt es selbst aus.« (a.a.O., S. 94)) und Lothar Bluhm (»Die Wirkung des Todesurteils beruht in Kafkas Geschichte auf der vom Sohn (an-)erkannten Rechtmäßigkeit der väterlichen Position.« (»ein Sohn nach meinem Herzen«: Kafkas ›Das Urteil‹ im Diskursfeld der zeitgenössischen Goethe-Nachfolge, S. 190; in: Jahraus, Neuhaus (Hg.), a.a.O., S. 176-196)).

36 Unter formalen Gesichtspunkten gibt es zwei Gründe, ein Urteil zu akzeptieren: zum einen kann man den Inhalt eines Urteils akzeptieren (dann wäre auch Georg davon überzeugt, dass er schuldig ist), zum anderen kann man die Autorität, die das Urteil ausspricht, anerkennen.

37 Lothar Bluhm, a.a.O.

38 »Goethe: Meine Lust am Hervorbringen war grenzenlos.« (Kafka, Tagebücher, a.a.O., 8.2.1912, S. 374)

39 »Ich glaube diese Woche ganz und gar von Goethe beeinflußt gewesen zu sein, die Kraft dieses Einflusses eben erschöpft zu haben und daher nutzlos geworden zu sein.« (ebd., 7.1.1912, S. 358) »Der mich ganz durchgehende Eifer mit dem ich über Goethe lese […] und der mich von jedem Schreiben abhält.« (ebd., 4.2.12, S. 368f)

40 Ebd., 25.12.1911, S. 318.

41 Die Ausführung des väterlichen Urteils durch Georg betrifft auch seine letzte ›Erzählung‹, seinen Brief. Dieser geht mit ihm unter.

42 »Wir legen die Geschichte vorgreifend auf ihren einheitlichen Sinn fest, indem wir das erzählte Geschehen als innerseelischen Konflikt deuten, in den verschiedene ›Anteile‹ einer psychischen Gesamtstruktur verwickelt sind.« (Bartels, a.a.O., S. 231)

43 Axel Honneth, dessen Theorie der Anerkennung ohne »eine intersubjektive Psychoanalyse« (Jessica Benjamin) nicht denkbar wäre, fasst diese Entwicklung wie folgt zusammen: »All das [die Untersuchungen von René Spitz, John Bowlby und Daniel Stern] mußte innerhalb einer forschungsoffenen Psychoanalyse […] insofern im hohen Maß irritierend wirken, als es im Gegensatz zum Es-Ich-Strukturmodell der Freudschen Theorie auf die nachhaltige Bedeutung von frühesten, vorsprachlichen Interaktionserfahrungen hinzuweisen schien: wenn der Sozialisationsprozeß maßgeblich von Erfahrungen abhängig war, die das Kleinkind im affektiven Umgang mit seinen ersten Beziehungspartnern macht, dann war die orthodoxe Vorstellung nicht länger aufrechtzuerhalten, nach der sich die psychische Entwicklung als Abfolge von Organisationsformen des ›monologischen‹ Verhältnisses zwischen libidinösen Trieben und Ichfähigkeit vollzog; der konzeptuelle Rahmen der Psychoanalyse bedurfte vielmehr einer grundsätzlichen Erweiterung um jene unabhängige Dimension sozialer Interaktionen, innerhalb derer das Kind sich durch die emotionale Beziehungen zu anderen Personen als ein eigenständiges Subjekt zu begreifen lernt.« (Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte; Frankfurt/M. 1998, S. 156; siehe auch: ders., Objektbeziehungstheorie und postmoderne Identität. Über das vermeintliche Veraltern der Psychoanalyse; in: ders., Unsichtbarkeit. Stationen einer Theorie der Intersubjektivität, Frankfurt/M. 2003, S. 138-161) Ebenso Jessica Benjamin: »In den letzten Jahren haben verschiedene psychoanalytische Schulen den Versuch unternommen, eine intersubjektive Theorie des Selbst zu entwickeln. Gemeinsam ist diesen Ansätzen die Annahme, das psychische Geschehen sei eher ein interaktives als ein monadisches Geschehen; der psychoanalytische Prozeß solle entsprechend als ein Geschehen zwischen Individuen und nicht als intrapsychisches Erleben verstanden werden.« (Ein Entwurf zur Intersubjektivität. Annerkennung und Zerstörung, S. 39; in: dies., Phantasie und Geschlecht. Psychoanalytische Studien über Idealisierung, Anerkennung und Differenz, Frankfurt/M. 1996, S. 39-58)

44 Kafka, Tagebuch, 23.9.1912, S. 461.

45 So z.B. Sokel: »Long before Freud´s The Ego and the Id, but in close analogy to it, Kafka shows the alliance of Superego and Id doing away with the Ego.« (a.a.O, S. 207)

46 »Something this means to me is that skepticism with respect to the other is not a generalized intellectual lack, but a stance I take in the face of the other´s opacity and the demand the other´s expression places upon me; I call skepticism my denial or annihilation of the other.« (St. Cavell, Philosophy the Day after Tomorrow, Cambridge (Mass.) 2005, S. 150)

47 »Vulnerable, I would say, to skepticism, but with the understanding that skepticism wears as many guises as the devil.« (St. Cavell, Philosophy the Day after Tomorrow, Cambridge (Mass.) 2005, S. 2)

48 Siehe insbesondere: Stanley Cavell, Knowing and Acknowledging, a.a.O.; ders., The Avoidance of Love. A Reading of King Lear, a.a.O.; ders., The Claim of Reason. Wittgenstein, Skepticism, Morality, and Tragedy, Oxford 1979.

49 Jahrhaus, a.a.O., S. 245.

50 Dass es zwischen einem Urteil und den Kriterien für ein Urteil einen Spalt gibt, darauf insistiert auch Jacques Derrida: »Man urteilt ohne Kriterien.« Und: »Absolut, ich urteile. Aber wenn man mich fragt, welches die Kriterien meines Urteilens sind, werde ich offenkundig keine Antwort zu geben haben …« (Jacques Derrida, Préjugés. Vor dem Gesetz, Wien 1992, S. 23. Derrida zitiert hier aus Jean-Francois Lyotard / Jean-Loup Thebaud, Au juste, Paris 1979, S. 30-32.)