Stefan Trenkel

Das Vorurteil

Franz Kafkas Bericht für eine Akademie als Antwort auf die Frage: Was ist Aufklärung?

1. Im Mittelpunkt des Berichts für eine Akademie steht ein Ausweg und die Freiheit. Dem Ausweg wird explizit die Freiheit gegenübergestellt: „Ich sage absichtlich nicht Freiheit … Nein, Freiheit wollte ich nicht. Nur einen Ausweg“ 4. Über drei Absätze hinweg insistiert an dieser Stelle der Berichterstatter darauf, dass es ihm um einen Ausweg und nicht um Freiheit geht. Und auch am Ende seines Berichts stellt er nochmals Ausweg und Freiheit gegenüber. Diese Gegenüberstellung von Ausweg und Freiheit sollte stutzig machen. Dies um so mehr, als am Ende des Auswegs ein redegewandter, erfolgreicher Varietékünstler steht. Ein Künstler, der sowohl auf Banketten als auch bei wissenschaftlichen Gesellschaften zu Hause ist. Es stellt sich die Frage, warum der Ausweg nicht in Freiheit mündet. Warum ist der Berichterstatter nicht frei?

2. Diese Frage möchte ich durch eine Mutmaßung verschärfen. Der Bericht schildert den Ausweg als einen Bildungsprozess 5: „Und ich lernte, meine Herren!“ 6 Dieser Bildungsprozess startet mit einem Handschlag („Das erste, was ich lernte, war: den Handschlag geben“ 7), setzt sich fort mit dem „Eindringen der Wissensstrahlen“ 8 und mündet in der „Durchschnittsbildung eines Europäers“ 9. Bildung wird hier in einem umfassenden Sinn begriffen. Es umfasst sowohl Kulturtechniken („Handschlag“, „Pfeife rauchen“, „Schnaps trinken“) als auch (theoretische) Erkenntnis („Wissensstrahlen“).
Von hier aus möchte ich auf Moses Mendelssohn überblenden. Mendelssohn (1729 - 1786) gehörte dem Kreis der Berliner Aufklärung an und ist Wegbereiter der Haskala, der jüdischen Aufklärung. Er übersetzte den „Diskurs über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen“, Rousseaus Antwort auf die Preisfrage der Académie de Dijon „Welches ist der Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen, und ist sie durch das natürliche Gesetz gerechtfertigt?“, ins Deutsche und er gewann mit seinem Aufsatz „Abhandlung über die Evidenz in Methaphysischen Wissenschaften“ (1763) eine Preisfrage der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften. Als Ehrenmitglied verkehrte er in der Gesellschaft der Freunde der Aufklärung, der sogenannten Berliner Mittwochsgesellschaft. Er besaß das „Privileg“ eines außerordentlichen Schutzjuden und übersetzte die fünf Bücher Moses ins Deutsche. Von Johann Caspar Lavater wurde er aufgefordert, zum Christentum überzutreten. Wohl in Folge der sich anschließenden öffentlichen Auseinandersetzung erlitt er einen psychischen Zusammenbruch. Gotthold Ephraim Lessing, sein Freund und Wegbegleiter, setze ihm in Nathan der Weise ein „bleibendes Denkmal“ 10.
Auch wenn diese lose Aufzählung Hinweise birgt, dass Mendelssohn auch Vorbild für den Berichterstatter sein könnte, möchte ich seinen Bildungsweg und den Bildungsbegriff, den er in seiner Schrift „Ueber die Frage: was heißt aufklären?“ entwickelt hat, in den Blick nehmen. Mendelssohns Bildungsweg ist durch zwei Eckpunkte charakterisiert. Zum einen durch den Ausbruch „aus der religiösen Wissenswelt der Talmudschüler“ 11, „einer in sich geschlossenen und exklusiven jüdischen Geisteswelt“ 12, „hinüber in die säkulare Welt der europäischen Kultur und Philosophie“ 13. Zum anderen durch die Leistung, sich diese Bildung selbständig erarbeitet zu haben: „Übrigens bin ich nie auf einer Universität gewesen, habe auch in meinem Leben kein Collegium lesen hören. Diese war eine der größten Schwierigkeiten, die ich übernommen hatte, indem ich alles durch Anstrengung und eigenen Fleiß erzwingen mußte.“ 14 Dieser Werdegang wurde in der europäischen Kultur zur Sensation: „Er ist wirklich ein Jude, ein Mensch von etliche zwanzig Jahren, welcher, ohne alle Anweisung, in Sprachen, in der Mathematik, in der Weltweisheit, in der Poesie eine große Stärke erlangt hat.“ 15
In seiner Schrift „Ueber die Frage: was heißt aufklären?“ ist Bildung der Schlüssel für die Entwicklung einer Person und der Gesellschaft. Bildung wird umfassend verstanden und „zerfällt in Kultur und Aufklärung“ 16. Kultur geht „auf das Praktische“ 17, Aufklärung bezieht sich auf das „Theoretische“ 18. Die Parallelen zum Bildungsbegriff des Berichts sind nicht zu übersehen.
Es zeigt sich, dass im Bildungsprozess des Berichterstatters sowohl der Bildungsweg des Aufklärers Moses Mendelssohns, als auch sein in Bezug auf die Aufklärung entwickelter Bildungsbegriff durchschimmern. Sollte sich das erhärten, so stellt sich die Eingangsfrage wie folgt: Warum mündet die Aufklärung des Berichterstatters nicht in Freiheit?

3. Ich möchte zunächst meine These, dass der Ausweg des Berichterstatters in der Begrifflichkeit der Aufklärung entwickelt wird, noch durch die schon lose erwähnten Bezüge zur Akademie erhärten. Die (europäische) Akademie (der Neuzeit) ist eine zentrale Institution der Aufklärung. Akademien schossen, lax gesagt, ab dem ausgehenden 17. Jahrhundert wie Pilze aus dem Boden. 19 Hier versammelten sich Aufklärer und hier wurde die Aufklärung selbst thematisiert. 20 Diese kurze Skizze der Beziehung von Akademie und Aufklärung sollte genügen. Sie macht deutlich, dass ein Text mit dem anspruchsvollen Titel „Ein Bericht für eine Akademie“ sich im Kontext der Aufklärung bewegt. 21
Richten wir nun unseren Blick auf die beiden schon erwähnten Akademien, die Akademie von Dijon und die Königlich-Preußische Akademie der Wissenschaften.
Die Preisfrage der Akademie von Dijon „Welches ist der Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen, und ist sie durch das natürliche Gesetz gerechtfertigt?“ ist die mit Abstand berühmteste und einflussreichste Akademie-Frage. Ihre Bedeutung für die Aufklärung kann nicht überschätzt werden. Ihre bis heute anhaltende Aktualität springt ins Auge. Auch Kafkas Text sollte so im Kontext dieser Frage stehen. Zumindest strukturell zeigen sich Parallelen. Ebenso wie Rousseau in seinem Diskurs stellt uns der Berichterstatter eine Entwicklung von einem Natur- hin zu einem Gesellschaftszustand vor.
Bei der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften, die wohl zentrale deutsche Akademie, möchte ich den Blick auf ihre Mitglieder lenken. Neben Leibniz als ihr erster Präsident sei hier Diderot, Lessing, Wieland, Zöllner und Kant genannt. Mendelssohn war, trotz Vorschlag, nicht Mitglied der Akademie. 22 Mit der Nennung dieser Namen möchte ich den Blick auf das fiktive Publikum lenken, an das sich der Berichterstatter mit seinem Eröffnungssatz „Hohe Herren von der Akademie!“ wendet. 23

4. Ich habe die Relevanz von Mendelssohns Aufsatz „Ueber die Frage: was heißt aufklären?“ für den Bericht dargelegt. Gleiches möchte ich mit Kants Schrift „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ tun. Bevor ich dazu komme, möchte ich den Ausgangspunkt für beide Texte, nämlich die von Johann Friedrich Zöllner aufgeworfene Frage „Was ist Aufklärung?“ in den Blick nehmen. Zöllner war Pfarrer, Mitglied der Königlich-Preußischen Akademie und der Berliner Mittwochsgesellschaft. 1783 veröffentlichte er in der Berlinischen Monatsschrift in einer Fußnote seine berühmte Frage. Schon Zöllner war sich über die Tragweite seiner Frage bewusst: „Was ist Aufklärung? Diese Frage, die beinahe so wichtig ist, als: was ist Wahrheit, sollte doch wol beantwortet werden, ehe man aufzuklären anfinge!“ 24 Nach ihrem Erscheinen hat sie eine lebhafte Diskussion im Kreis der (Berliner) Aufklärer ausgelöst. Mendelssohns und vor allem Kants Beitrag sind die herausragenden Antworten.
Die Frage hat sich zu einer der zentralen Fragen unserer Zeit entwickelt. Erinnert sei hier an Horkheimers/Adornos „Dialektik der Aufklärung“ 25 und an Michel Foucaults Beitrag „Was ist Aufklärung?“ 26. Auch wenn die von Zöllner aufgeworfene Frage keine Akademie-Frage ist, so hat sie doch, wie die oben genannte Frage der Akademie von Dijon, einen vergleichbaren Bezugsrahmen und eine vergleichbare Bedeutung. Von ihrem Inhalt her ragt sie sogar über alle anderen Akademie-Fragen hinaus. Sie ist gewissermaßen der Prototyp aller Akademie-Fragen. Mit ihr wird das Selbstverständnis der Akademie als Institution der Aufklärung thematisiert. Jede Akademie-Frage, jeder Bericht für eine Akademie, steht implizit im Kontext der Frage „Was ist Aufklärung?“.

5. Bevor ich auf Kant zu sprechen komme, möchte ich noch an eine andere Antwort auf die Frage „Was ist Aufklärung?“ erinnern. Sie stammt von Zöllner selbst und wurde in der Berlinischen Monatsschrift direkt vor Kants Antwort veröffentlicht. Sie ist kurz und prägnant:


Der Affe
Ein Fabelchen

Ein Affe stekt’ einst einen Hain
Von Zedern Nachts in Brand,
Und freute sich dann ungemein,
Als er’s so helle fand.
„Kommt Brüder, seht, was ich vermag;
Ich, – ich verwandle Nacht in Tag!“

Die Brüder kamen groß und klein,
Bewunderten den Glanz
Und alle fingen an zu schrein:
„Hoch lebe Bruder Hans!
Hans Affe ist des Nachruhms werth,
Er hat die Gegend aufgeklärt.“
 27


Aufklärung wird hier als selbstverliebte Überheblichkeit thematisiert. Doch wer ist der Affe? Sein Name Hans deutet auf einen deutschen Aufklärer hin. Der Name stammt aber auch von dem hebräischen Jochanan („Gott ist gnädig“) ab. Zedern verweisen auf den Libanon 28 und den „Baum des Herrn“ (Psalm104, 16). 29 Hain als heiliger Ort war zur damaligen Zeit ein zentraler literarischer Topos. Prägend für den Begriff war die Verwendung von Martin Luther in seiner Bibelübersetzung: „Also erhub Abram seine Hütten | kam und wonet im Hayn Mamre | der zu Hebron ist | Vnd bawet daselbs dem HERRN einen Altar“ (1. Mose, 13,18). Diese doppelte Auszeichnung des Zedern-Hains als heiliger Ort ist sicher zentral für das Fabelchen. Zöllner ging es, nicht nur hier, um das gedankenlose In-Brand-Stecken religiöser Überzeugungen im Namen der Aufklärung. Mendelssohn und Kant gehen in ihren Antworten auf diese Problematik ein. Doch alle drei Hinweise, der hebräische Jochanan, der Baum des Herrn und die Wohnstätte Abrahams deuten auch auf einen jüdischen Kontext hin. 30 Dieser Affe in seiner ambivalenten Gestalt begleitet, um mit Foucault zu sprechen, seit über zwei Jahrhunderten die Frage "Was ist Aufklärung?".

6. Um die bisher entwickelte Frage, warum die Aufklärung des Berichterstatters nicht in Freiheit mündet, zu verschärfen, komme ich nun auf Kant zu sprechen. Wir haben ihn als (möglichen) Zuhörer der Akademierede identifiziert. Hier möchte ich, wie schon gesagt, seine Schrift „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ 31 in den Blick nehmen. Diese Schrift setzt mit der berühmten Bestimmung „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit.“ 32 an. Unmündigkeit wird als das „Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen“ 33 gefasst. Mündigkeit wird am Grad des Selbstdenkens bemessen. Dieses Vermögen des Selbstdenkens verdeutlicht Kant mit Bildern der Bewegung. Der Unmündige ist jemand, der sich nicht frei bewegen kann. Er ist eingesperrt in einem „Gängelwagen“ 34, er hat „Fußschellen“ 35 um. Der Unmündige ist seiner (geistigen) Bewegungsfreiheit beraubt. Mündigkeit ist entsprechend „freie Bewegung“ 36. Das Selbstdenken ist so ein Akt der Freiheit. Es ist gleichermaßen das „freie Denken“ 37 38.
Kants Beantwortung kontrastiert so mit dem kafkaschen Bericht. Ausgangspunkt für beide Texte ist ein Gefangensein. Bei Kant im Gängelwagen, bei Kafka im Käfig. 39 Doch von hier aus trennen sich die Wege. Bei Kant geht es um einen Ausgang, bei Kafka um einen Ausweg. Kants Ausgang mündet in freiem Denken, Kafkas Ausweg mündet nicht in Freiheit. Auch hier scheint Kafka die bildliche Sprache Kants (wörtlich) aufzunehmen. Kant vergleicht, wie oben aufgeführt, das freie Denken mit freier Bewegung, Kafka warnt vor einer Verwechslung der Freiheit mit „selbstherrliche[r] Bewegung“ 40. Kants Antwort verschärft so unsere oben gestellte Frage, warum die Aufklärung des Berichterstatters nicht in Freiheit mündet. Sie verschärft sie, weil bei Kant Aufklärung freies Denken verspricht. 41

7. Würde man den Bericht wörtlich lesen, so sähe eine Antwort auf unsere Frage in etwa so aus: Die Aufklärung des Berichterstatters mündet nicht in Freiheit, weil sie notwendig seine „Affennatur“ „unterdrückt“ 42. Doch eine solche Antwort unterliegt genau dem Vorurteil, gegen das - so möchte ich zeigen - der Bericht sich wehrt. Ich gehe davon aus, dass der Berichterstatter nicht ein (ehemaliger) Affe ist, sondern ein Mensch. Unter dieser Voraussetzung handelt der Bericht nicht von einem Affen, der zum Menschen wurde, sondern von einem Menschen, der zum Affen gemacht wurde. Der Bericht erzählt nicht von einer Menschwerdung, sondern von einer Entmenschlichung. Ich möchte zeigen, dass der Bericht an genau zwei Stellen auf diese Entmenschlichung und ihre verschiedenen Ausprägungen zu sprechen kommt: am Anfang und am Ende des Berichts und am Anfang der eigentlichen Autobiographie. Die Autobiographie des Berichterstatters beginnt „inmitten eines Rudels“ 43 mit zwei Schüssen. Einem leichten und einem schweren. Doch genau in dem Moment, in dem der Berichterstatter auf die zwei Schüsse zu sprechen kommt, echauffiert er sich „nebenbei“ über zwei ganz anders gelagerte Verletzungen: seinen „widerlichen, ganz und gar unzutreffenden, förmlich von einem Affen erfundenen Namen Rotpeter“ 44 und die nicht abreißenden Spekulationen über seine (noch nicht ganz unterdrückte) „Affennatur“ 45. Der Bericht überblendet die beiden Schüsse mit zwei Formen der Entmenschlichung. Dies legt nahe, die beiden Schüsse als ebendiese Entmenschlichungen zu verstehen.
Als zweiten Hinweis für die These der Entmenschlichung möchte ich den Blick auf den Beginn und auf das Ende des Berichts lenken. Es sind die beiden einzigen Stellen, die von der Akademie und nicht von dem Berichterstatter handeln. Der Protagonist eröffnet seine Akademierede mit der „Ehre, mich aufzufordern, der Akademie einen Bericht über mein äffisches Vorleben einzureichen“ 46. Diese Aufforderung ist das einzige, was wir von der Akademie wissen. 47 Wie gehen wir damit um? Können wir diese Aufforderung unbefragt akzeptieren? Es gibt zwei Hinweise, das wir das nicht tun sollten. Zum einen weist der Berichterstatter gleich zu Anfang diese Aufforderung elegant zurück: „In diesem Sinne kann ich leider der Aufforderung nicht nachkommen.“ 48 Hier ist der Berichterstatter noch diplomatisch. Am Ende seines Berichts wird er deutlich. Er verbittet sich, dass die Akademie ein Urteil über ihn fällt: „Im übrigen will ich keines Menschen Urteil; [...] auch Ihnen, hohe Herren von der Akademie, habe ich nur berichtet.“ 49 Der Aufforderung der Akademie zu Anfang des Berichts liegt aber genau ein (Vor-) Urteil zu Grunde: das Urteil, dass es sich bei dem Aufgeforderten um einen (ehemaligen) Affen handelt. Mit Blick auf das Urteils-Verbot sollten wir genau dieses Urteil nicht akzeptieren. Dann aber verwandelt sich die scheinbar harmlose Aufforderung der Akademie mit einem Schlag in eine Entmenschlichung. Der Bericht benennt so drei Stufen der Entmenschlichung: diskriminierende Namensgebung, Spekulationen über die Affennatur und die Aufforderung, sich selbst als Affen zu beschreiben. Damit zeichnet sich eine Antwort auf unsere Frage ab: Die Aufklärung des Berichterstatters kann nicht in Freiheit münden, weil er von allen Seiten (Straße, Zeitung, Akademie) entmenschlichender Praktiken ausgesetzt ist.

8. Ich habe versucht zu zeigen, dass man Kafkas Bericht als Antwort auf die Frage Was ist Aufklärung? verstehen kann. Die Argumentation stützt sich wesentlich auf drei Punkte: Der Akademie, an die der Bericht gerichtet ist und die eine zentrale Institution der Aufklärung ist; dem Bildungsprozess des Berichterstatters, in dem der Bildungsbegriff der Aufklärung, insbesondere wie ihn Mendelssohn in seiner Antwort „Ueber die Frage: was heißt aufklären?“ entwickelt hat, durchschimmert; und die Bezugspunkte Ausweg und Freiheit, die mit den Bezugspunkten Ausgang und Mündigkeit aus Kants Antwort kontrastieren.
Unabhängig von dieser Situierung bin ich davon ausgegangen, dass der Berichterstatter ein Mensch ist. Dann aber zeigt sich, dass der Bericht darauf abzielt, das Vorurteil der Akademie, es handle sich bei dem Berichterstatter um einen gewesenen Affen, zu untergraben. Im Mittelpunkt von Kafkas Antwort stünde dann das Vorurteil. Damit läge ein weiterer Hinweis vor, dass sich der Bericht im Kontext der Aufklärung bewegt. Aufklärung ist nämlich gerade angetreten, Vorurteile zu beseitigen. Die Frage ist nun, wie macht das die Aufklärung? Wie verschwinden Vorurteile? Kants Antwort haben wir schon angedeutet: Vorurteile werden durch Selbstdenken überwunden. Auch wenn dies ein langsamer Prozess ist, Vorurteile können den Selbstdenker im Joch der Unmündigkeit halten, geht Kant davon aus, dass ein herrschaftsfreier, öffentlicher Diskurs zur Überwindung von Vorurteilen ausreicht. Vernunft durchschaut letztlich das Vorurteil.
Kafkas Antwort vollführt eine ähnliche Bewegung. Sein Bericht macht zunächst die ungeheure Kraft von Vorurteilen deutlich: sie verletzen, sie sperren ein und sie schließen (aus der „Menschenwelt“ 49) aus. Der Bericht zeigt nun, dass man durch Selbstaufklärung den Folgen des Vorurteils Herr werden kann. Die Verletzungen werden erträglich (Narbe, Hinken), den Käfig kann man verlassen und dem Ausschluss begleiten Einschlüsse. Doch diese einseitige Aufklärung gelingt nicht. Der Ausweg ist zugleich ein Aus-dem-Weg-gehen 51, ein „in die Büsche schlagen“ 52. Sie gelingt nicht, solange das Vorurteil fortbesteht. Mit seinem Bericht durchbricht der Berichterstatter dieses Ausweichen. Man kann ihn als einen Versuch verstehen, der Akademie ihre Vorurteile vor Augen zu führen. Verbunden wäre damit wohl die Aufforderung an die Akademie, im Durchgang eines reziproken Bildungsprozesses das Vorurteil zu durchschauen und so zu beenden.
Wie sich Kafkas Antwort im Detail zu der von Kant verhält, ist schwer zu beurteilen. Sie zeigt zumindest, wie bodenlos unsere Vernunft ist, wie allumfassend das Vorurteil sein kann. Bis auf den heutigen Tag, 100 Jahre nach Veröffentlichung des Berichts, wird der Berichterstatter von der überwiegenden Mehrheit der Interpreten, möglichen Mitgliedern der Akademie, mit dem „widerlichen, ganz und gar unzutreffenden, förmlich von einem Affen erfundenen Namen Rotpeter“ 53 angesprochen. Alle unsere Urteile, wie aufgeklärt sie auch sein mögen, sind durch das Vorurteil bedroht. Und doch nur Vernunft, so könnte man Kafkas Bericht für 54 eine Akademie verstehen, kann das Vorurteil durchschauen.


1 Moses Mendelssohn, Gesammelte Schriften [JubA], hg. v. A. Altmann, E. J. Engel, M. Brocke u. D. Krochmalnik, Stuttgart 1971ff, Bd. 8, S. 200.

2 JubA 6/1, S. 140.

3 Stanley Cavell, The Avoidance of Love: A Reading of King Lear, in: ders., Must We Mean What We Say?, Cambridge 1969, S. 310.

4 Franz Kafka, Zwei Tiergeschichten [Bericht], in: Martin Buber (Hg.), Der Jude. Eine Monatsschrift, Berlin/Wien 1917, Jg. 2, Heft 8, S. 561.

5 „Kafkas 'Bericht für eine Akademie' ist die Geschichte eines Lernprozesses.“ (Gerhard Neumann, „Ein Bericht für eine Akademie“, Erwägungen zum „Mimesis“-Charakter Kafkascher Texte, in: Deutsche Vierteljahrschrift für Literatur und Geistesgeschichte (49), 1975, S. 166 – 183, hier S. 166.) Andreas Disselnkötter und Claudia Albert sprechen von einem „Bildungsroman“. (Dies., „Grotesk und erhaben in einem Atemzug“ - Kafkas Affe, in: Euphorion 96, 2002, S. 127 – 144, hier: S. 129.)

6 Bericht, S. 564.

7 Bericht, S. 560.

8 Bericht, S. 564.

9 Bericht, S. 564.

10 http://gutenberg.spiegel.de/autor/moses-mendelssohn-409 (2016).

11 Shmuel Feiner, Moses Mendelssohn, Göttingen 2009, S. 34.

12 Ebd., S. 24.

13 Ebd.

14 Mendelssohn in einem Brief an Johann Jakob Spiess vom 1.3.1774. JubA 12/2, S. 45.

15 Gotthold Ephraim Lessing an Johann David Michaelis, 16. 10. 1774, in: Lessing, Werke und Briefe, Bd. 11/1: Briefe von und an Lessing, 1743-1770.

16 Moses Mendelssohn, Ueber die Frage: Was heißt aufklären?, in: Berlinische Monatsschrift 4 (1784), S. 193–200, hier: S. 195.

17 Ebd.

18 Ebd.

19 Zusammen mit den Akademien muss man die Gründung von Kaffeehäusern, Salons, Lese- und Geheimgesellschaften sehen. Diese Institutionen und Orte sind die „soziale[n] Keimzellen der Aufklärung“ (Barbara Stollberg-Rilinger, Die Aufklärung, Stuttgart 2000, S. 119). Der Berichterstatter bewegt sich ebenfalls in dem Umfeld von „Banketten“ und „wissenschaftlichen Gesellschaften“.

20 „Fast alle maßgeblichen Ideen der Aufklärung wurden zunächst in Akademien, Salons und Sozietäten vorgetragen“. Annette Meyer, Die Epoche der Aufklärung, Berlin 2010, S. 114.

21 Die oben zitierten „Wissensstrahlen“ mögen ein weiterer Hinweis sein, dass sich der Bericht im Kontext der Aufklärung bewegt. „Aufklärung kommt ursprünglich von Hellmachen des Geistes und zwar als Lichtbringen in die Einzelseele.“ Gerd Irrlitz, Kant Handbuch, Stuttgart 2010, S. 15.

22 Friedrich II. verweigerte der Aufnahme seine (notwendige) Zustimmung.

23 Mit dieser Ansprache wendet sich der Bericht im Vorgriff auch an seine Interpreten.

24 Johann Friedrich Zöllner: „Ist es rathsam, das Ehebündniß nicht ferner durch die Religion zu sanciren?“, in: Berlinische Monatsschrift 2 (1783), S. 508–516, hier: S. 516.

25 Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt/M. 1988.

26 Michel Foucault, Was ist Aufklärung? In: Daniel Defert, Francois Ewald (Hg.), Michel Foucault, Dits et Ecrits. Schriften, Bd. 4, Frankfurt/M. 2005, S. 687-707, hier: S. 688.) Zur weiteren Diskussion siehe: Eva Erdmann, Rainer Forst, Axel Honneth: „Ethos der Moderne: Foucaults Kritik der Aufklärung“, Frankfurt/M., New York 1990. Foucault stellt in seiner Antwort die Bedeutung dieser Frage noch stärker heraus: „Die moderne Philosophie ist die Philosophie, die seit nunmehr zwei Jahrhunderten auf die so sehr unbedachtsam aufgeworfene Frage: Was ist Aufklärung? eine Antwort zu geben versucht.“ (S. 688)

27 Berlinische Monatsschrift 4 (1784), S. 480. Der Beitrag ist mit „Z.“ unterschrieben.

28 Der Libanon ist Namesgeber einer Zedernart („Libanon-Zeder“) und die Flagge sowie das Wappen Libanons zeigen im Zentrum eine Zeder.

29 Im Alten Testament finden sich weitere Bezüge. König Salomo ehrte literarisch die Zedern („Er dichtete von den Bäumen, von der Zeder auf dem Libanon bis zum Ysop, der aus der Wand wächst.“ 1. Kön. 5,13) und er verwendete sie für den Bau des Jerusalemer Tempels („Befiehl nun, dass man auf dem Libanon Zedern für mich fällt.“ 1. Kön. 5,20).

30 Die Verwendung von Brüder könnte in diesselbe Richtung weisen. Mit „meine Brüder“ bezeichnen Juden ihre Gemeinschaft. Exemplarisch Moses Mendelssohn: „Bei eingeschränkten Mitteln des Erwerbs große Abgaben zu entrichten, dieses ist die einzige Bestimmung, zu welcher sich meine Brüder geschickt machen müssen.“ (JubA 12/1, S. 159).

31 Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: Berlinische Monatsschrift 4 (1784), S. 481 - 494.

32 Ebd., S. 481.

33 Ebd.

34 Ebd., S. 482.

35 Edb., S. 483.

36 Ebd.

37 Ebd., S. 493.

38 Neben dieser begrifflichen Einordnung möchte ich auf die Begriffsgeschichte des Wortes „Unmündigkeit“ hinweisen. Kant verwendete diesen Begriff zum ersten Mal in dem hier genannten Text. („Bei Kant selbst tauchen die Wörter Unmündigkeit und Mündigkeit erst überraschend spät auf, in seinen Veröffentlichungen zum ersten Mal im Jahre 1784“. (Norbert Hinske, „Nachwort zur zweiten Auflage“, in: Norbert Hinkse (Hg.), „Was ist Aufklärung? Beiträge aus der Berlinischen Monatsschrift“, Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1990, S. 545.)) Zuvor wurde er in Bibelübersetzungen verwendet: „Der Begriff der Unmündigkeit findet sich nämlich auch in einer Reihe von Bibelübersetzungen des 18. Jahrhunderts, und zwar vor allem bei der Übersetzung des Galaterbriefs 4.1 ff.“ (Ebd., S. 547) In einer von Nicolas Hass 1707 herausgegebenen Ausgabe lautet diese Stelle: „1. Ich sage aber / so lange der erbe ein kind ist / so ist unter ihm und einem knechte kein unterschied / ob er wol ein herr ist aller [seiner väterlichen] güther. 2. Sondern er ist unter den vormündern und pflegern bis auf die bestimmte zeit vom vater. 3. Also auch wir / [gebohrene Jüden /] da wir [vormals gleichsam unmündige] kinder waren / waren wir gefangen [und in scharffer zucht gehalten] unter den äusserlichen satzungen. [und ceremonien des Levitischen gesetzes.]“ (BIBLIA Das ist: Die Heilige Schrift Altes und Neues Testaments / verteuscht durch D. Martin Luthern, hrsg. v. Nicolas Haas, Leipzig 1707 (1704), Blatt 122. Die eckicken Klammern so im Text.) Juden werden hier als unmündig bezeichnet, weil sie die ihnen auferlegten Gesetze befolgen. Dieses Vorurteil durchzieht die Aufklärung. Moses Mendelssohn sah sich genötigt, die Vereinbarkeit der jüdischen Gesetze mit der Aufklärung zu verteidigen.

39 Beide Texte sprechen auch von einem Joch. Bei Kant ist es das Joch der Unmündigkeit, Kafka nennt den Verzicht auf Eigensinn ein Joch.

40 Bericht, S. 561.

41 Ich habe den Bezug des Berichts zur Aufklärung neben dem Verweis auf die Akademie stark mit Mendelssohn und Kant und ihren beiden Antworten auf die Frage „Was ist Aufklärung?“ verknüpft. Im Falle Mendelssohn auch mit seiner Person. Die angeführten Details scheinen mir das zu rechtfertigen. Nichtsdestotrotz handelt es sich in allen Fällen auch um allgemeine Züge der Aufklärung. Bildung, Selbstdenken und Freiheit prägen das Selbstverständnis dieser Epoche.

42 Bericht, S. 560.

43 Bericht, S. 560.

44 Ebd.

45 Ebd.

46 Ebd., S. 559.

47 Wenn Gerhard Neumann schreibt, dass „die Herren der Akademie […] gesichtslos, stumm und unsichtbar“ sind, so scheint mir das nicht ganz richtig zu sein. Stumm sind die Herren der Akademie mit ihrer Aufforderung jedenfalls nicht. (Ders.: Der Blick der Anderen. Zum Motiv des Hundes und des Affen in der Literatur, in: JDSG 40, 1996, S. 87-122, hier: S. 115f.)

48 Bericht, S. 559.

49 Ebd., S. 565.

50 Ebd., S. 559 und S. 560.

51 Der „Menschenausweg“ (Bericht, S. 565) ist so ein den-Menschen-aus-dem-Weg-gehen.

52 Die „ausgezeichnete deutsche Redensart: sich in die Büsche schlagen“ (Bericht, S. 565) stammt aus dem Gedicht „Der Wilde“ von Johann Gottfried Seume. Es endet mit folgenden Worten: „Wie vom Blitz getroffen stand der Jäger, / Und erkannte in dem edlen Manne / Jenen Mann, den er vor wenig Wochen / In dem Sturmwind aus dem Hause jagte, / Stammelte verwirrt Entschuldigungen. // Ruhig ernsthaft sagte der Hurone: / Seht, ihr fremden, klugen, weisen, Leute, / Seht, wir Wilden sind doch beßre Menschen; / Und er schlug sich seitwärts ins Gebüsche.“ (Ders., in: Neue Thalia, 1792-93, Dritter Band, hrg. v. Friedrich Schiller, S. 255 – 260, hier: S. 259f.)

53 Bericht, S. 560.

54 Das „für“ in „Ein Bericht für eine Akademie“ kann auf zwei Arten verstanden werden. Zum einen im Sinne von „an“, zum anderen, wie hier, im Sinne einer Fürsprache. Die (alte) englische Übersetzung „A Report to an Academy“ deutet an, dass häufig nur die erste der beiden Bedeutungen wahrgenommen wurde.